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Titel
Die Sprache des Rechts. Historische Semantik und karolingische Kapitularien


Herausgeber
Jussen, Bernhard; Ubl, Karl
Reihe
Historische Semantik
Erschienen
Göttingen 2022: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
377 S.
Preis
€ 85,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Becher, Historisches Seminar, Universität Bonn

Der Band geht zurück auf eine Tagung, die im Februar 2017 vom Akademieprojekt „Edition der fränkischen Herrschererlasse“ (Köln) mit dem Leibniz-Projekt „Computational Historical Semantics“ (Frankfurt) sowie dem Deutschen Historischen Institut in Paris veranstaltet wurde. In der Einleitung stellen die beiden Projektleiter zunächst die Materialbasis und die Methodik vor. Sie präsentieren die Kapitularien oder Herrschererlasse der Karolingerzeit als eine ausgesprochen heterogene Textsorte, deren Erforschung dank der geplanten Neuedition auf eine solide Basis gestellt werden wird. Die Sprache der Kapitularien hatte in der älteren Forschung keinen guten Ruf, was aber nur seine Berechtigung hat, wenn man sie als „Erlasse der Staatsgewalt“1 begreift und nicht mit Gerhard Schmitz als „Stücke pragmatischer Schriftlichkeit“2, die laut Christina Pössel der Kommunikation zwischen dem Herrscher und seinen Amtsträgern vor Ort gedient hätten.3 Steffen Patzold hat schließlich den Verdacht geäußert, die Annahme einer rechtshistorischen Gattung der Kapitularien habe die Forschung in die Irre geführt.4 In dieser Debatte habe die Semantik der Texte überhaupt keine Rolle gespielt, weshalb die Tagung und nun auch der Band eine große Forschungslücke füllen.

Die Basis der einzelnen Beiträge war eine von den beiden Projekten entwickelte lemmatisierte Datenbank aller Kapitularientexte, mit deren Hilfe die Semantik der Texte leichter untersucht werden konnte. Die Herausgeber selbst demonstrieren in der Einleitung anhand ausgewählter Beispiele Möglichkeiten und Grenzen computerbasierter semantischer Forschung und formulieren die methodischen Anforderungen, die sich aus diesem Ansatz für die Quellenerschließung ergeben. Die einzelnen Beiträge wurden in zwei Sektionen gegliedert, die zum einen das Verhältnis der Kapitularien zu Textsorten thematisieren, die wie Leges, Urkunden und Predigten, inhaltliche oder formale Überschneidungen mit ihnen aufweisen. Zum anderen wurden Wortfelder untersucht, die als besonders charakteristisch für die Kapitularien gelten.

Die Beziehungen der Kapitularien zu anderen Textsorten beginnt mit dem Beitrag von Gerda Heydemann und Helmut Reimitz (S. 35–60) über den Stellenwert, den die Vergangenheit in den Kapitularien Pippins des Jüngeren, Karls des Großen und Ludwigs des Frommen hatte. Dabei ist der Befund zunächst ernüchternd, weil entsprechende Verweise weitgehend fehlen, obwohl die Karolinger ansonsten sehr auf historische Bezüge bedacht waren, wie nicht nur ganz allgemein die Historiographie, sondern auch Pippins Prolog zur Lex Salica unterstreichen. Nur pauschal wird auf Erlasse der Vorgänger verwiesen, während biblische Bezüge deutlicher hervortreten, wobei unter Karl dem Großen zunehmend auf das Neue Testament verwiesen worden sei und weniger auf das Alte Testament, während die exegetische Fundierung der Gesetzgebung unter Ludwig dem Frommen weitgehend aufgegeben worden sei. Dagegen kam unter diesem die Unterscheidung von leges mundanae und leges divinae auf.

Magali Coumert (S. 61–94) untersucht die sogenannten Capitula legibus addenda im Hinblick auf die Bezugnahme auf ältere Rechtstexte. In einigen Kapitularien wurde tatsächlich durch Zitate und Verweise auf Titelnummern auf die Leges verwiesen, aber dies hatte aus heutiger Sicht nur geringen praktischen Nutzen, da es keine allgemeingültigen Textfassungen gegeben hat. Grundsätzlich möglich war eine solche Bezugnahme jedoch, und Coumert nimmt diesen Befund als Hinweis auf eine bewusste Herrschaftsstrategie: Grundsätzlich hatten die Amtsträger vor Ort freie Hand bei der Umsetzung der Bestimmungen, waren in Streitfällen doch gehalten, sich mit dem Herrscher abzustimmen.

Steffen Patzold (S. 95–114) unterzieht die sogenannten Capitularia monastica einer kritischen Revision, die Josef Semmler ediert und als Produkte der Aachener Reformgesetzgebung Ludwigs des Frommen der Jahre 816 bis 818/19 identifiziert hat.5 Eine genaue Analyse zeigt jedoch, dass die Beschlüsse bereits in der Vorrede als Ergebnis der Beratung von Äbten und Mönchen angesprochen werden, während der Kaiser lediglich in der Datierung genannt wird; auch der Überlieferungskontext, der rein monastische Adressatenkreis sowie das für Kapitularien untypische Vokabular sprechen gegen diese Einordnung.

Britta Mischke begibt sich auf die Suche nach „Spuren von Urkundenformular in den fränkischen Herrschererlassen bis 840“ (S. 115–165) und greift damit die alte Frage auf, ob es eine verbindliche äußere Form der Kapitularien gegeben hat, die auch für ihre Rechtskraft entscheidend war. Tatsächlich folgten die Erlasse in der Merowinger- und der Hausmeierzeit anders als in der Karolingerzeit einem urkundenähnlichen Formular. In dem aus intimer Kenntnis des Materials gearbeiteten Beitrag kommt sie zu dem Schluss, dass sich „das Genre ‚Kapitular‘, das sich von den Urkunden funktional und formal abgrenzen lässt, erst in der Karolingerzeit“ herausbildete (S. 164). Dies hängt mit den Funktionen der beiden Textsorten zusammen: Die Urkunde habe aus sich selbst heraus den herrscherlichen Willen dokumentiert, während die Kapitularien diesen pragmatisch leichter im Gedächtnis der Missi dominici bewahren sollten.

Nicolas Perreaux (S. 167–210) untersucht die lexikalische und semantische Sprachverwendung in Urkunden und Kapitularien und stützt sich dabei auf seine eigene Datenbank Chartae Europeae Medii Aevi (CEMA) mit rund 150.000 Urkunden und mit ungefähr 45 Millionen Wörtern. Er kann mit Hilfe einer aufwendigen Datenanalyse u. a. zeigen, dass die Sprache der Urkunden sich permanent wandelte, während die der Kapitularien ziemlich konstant blieb, was mit ihren unterschiedlichen Funktionen zusammenhängt: „L’extraction des thèmes clés des deux ensembles montre que les diplômes privilégient des champs sémantiques relatifs au pouvoir, à l’organisation spatiale et temporelle, aux bâtiments et au monde monastique. En contrepartie, les capitulaires focalisent sur l’ordre, la morale, la hiérarchie, certaines relations de parenté et les évêques. Il ressort ainsi de cette analyse globale une forte complémentarité des thèmes abordés“ (S. 209).

Maximilian Diesenberger (S. 211–225) wendet sich schließlich dem Verhältnis der Kapitularien zur Predigtliteratur zu und knüpft damit an die Erkenntnis an, dass in beiden Textsorten eine moralische Sprache verwendet wurde, um Verhaltensnormen zu formulieren. Das Zusammenspiel von Kapitularien und Predigten demonstriert Diesenberger anhand der handschriftlichen Überlieferung, thematischer Überschneidungen und der mündlichen Vermittlung. Für letztere ist eine wahrscheinlich von Erzbischof Arn von Salzburg verfasste Admonitio ein besonders eindrückliches Beispiel.6 Inhaltlich konzentriert sich die Admonitio auf die üblichen Themen der Herrschererlasse ohne unmittelbaren Predigtbezug, den aber einige andere Kapitularien durchaus aufweisen.

Die zweite Sektion ist den Wortfeldern in den Kapitularien selbst gewidmet. Jennifer R. Davis (S. 229–260) nimmt die Verweise auf andere Kapitularien zunächst in den Blick, wie oft und in welchem Zusammenhang die Begriffe capitulare, capitularia, capitulum und capitula in den Kapitularien Karls des Großen verwandt wurden. Damit nimmt sie natürlich auch Stellung zur Frage, wie Kapitularien zu definieren sind. Wichtig ist ihre Beobachtung, dass diese Begriffe unter Karl dem Großen neu aufkamen. Allgemein vermittelten sie rechtliche Anordnungen des Herrschers, was für dessen Amtsträger sicher leichter als für uns Heutige zu erkennen war: „[…] aristocrats knew a capitulary when they saw it“ (S. 259). Die Verweise auf andere Kapitularien hätten vor allem eine kommunikative Funktion gehabt. Und schließlich zeige ihre Analyse, wie überlegt die Sprache des Rechts eingesetzt worden sei: „The choice of words reflects careful thought about what law was and what it could do. As part of a vocabulary of power, the term ‘capitulary’ helped mark out certain texts, helped assert royal authority, and helped foster a legal culture of discussion and consultation surrounding topics judged of interest by the court (S. 260)“.

Jean Meyers (S. 261–286) wendet sich dem Verb iubere in den Kapitularien zu, das wie schon in der Spätantike in Kontexten verwendet wurde, in denen kein absoluter Gehorsam erwartet wurde, sondern wie velle eher in einem Sinn gebraucht wurde, im Konsens getroffene Beschlüsse umzusetzen. Das absoluten Gehorsam verlangende imperare sei dagegen dem Verhältnis Gottes zu dem Menschen vorbehalten gewesen – eine Beobachtung, die sich sehr gut zu der Erkenntnis fügt, Herrschaft im Mittelalter sei – natürlich in unterschiedlichen Ausprägungen – an den Konsens der Großen oder Fürsten gebunden gewesen.

Els Rose (S. 237–314) analysiert Worte, die zur Kennzeichnung von Fremdheit benutzt wurden: Advena für einen Neuankömmling oder Geflüchteten, alienigenus dient zur Kennzeichnung von Auswärtigem, alienus bezieht sich in aller Regel auf fremdes Eigentum, barbarus dient der kulturellen, nicht der geographischen Unterscheidung, exterus wird meist pejorativ zur Beschreibung fremder Länder benutzt, extraneus beschreibt denjenigen außerhalb der sozialen Gruppe wie der Familie oder der christlichen Gemeinschaft, hospes meint nahezu ausschließlich den Fremden als Gast und peregrinus beschreibt den Reisenden schlechthin, in erster Linie Pilger, aber auch Reisende in weltlichen Angelegenheiten.

Abschließend wendet sich Stefan Esders (S. 315–373) der Formel fideles Dei et regis zu und ordnet sie als Zeugma in der politisch-religiösen Rechtssprache des Karolingerreiches ein: Die Formel „sollte zuerst die mehrdeutige begriffliche Valenz des Wortes fidelis auf zwei Kontexte eingrenzen, also die Zweideutigkeit der Wortbedeutung von fidelis in Bezug auf Gott und den König durchsetzen; und diese Zweideutigkeit suchte sie anschließend durch das Zeugma partiell wieder aufzuheben, indem die Auslassung des einen Wortes fideles den damit adressierten Personenkreis nachdrücklich daran erinnerte, dass sein christlicher Glaube und seine Loyalität zum Herrscher etwas miteinander zu tun hatten, sich wechselseitig bedingten, das eine ohne das andere schlechterdings nicht vorstellbar war“ (S. 326). Entsprechend bildeten Taufe und Treueid die institutionellen Bezugspunkte dieser Formel, deren karolingische Entwicklung auf den intensiven Kontakt mit dem Papst und dessen Verwendung einer entsprechenden Formel (fidelis Deo et beato Petro) zurückging. Seit 790 wurde die Formel dann intensiver gebraucht und gewann mit der allgemeinen Vereidigung des Jahres zusätzlich an Bedeutung. Insgesamt waren Karl der Große und seine Berater zwar nicht die ersten, „die gezielt auf die Verquickung von kirchlichem und königlichem Recht hingearbeitet haben. Sie haben diese Bemühungen aber fraglos erheblich intensiviert und über den allgemeinen Treueid für den Einzelnen verbindlich gemacht, was die Formel gleichsam rhetorisch poliert auf den Punkt brachte“ (S. 369).

Dieser ausgesprochen ertragreiche Band, dessen Ergebnisse die Herausgeber im zweiten Teil der Einleitung auch selbst umsichtig zusammenfassen, zeigt die großen Möglichkeiten, die computergestützte Wortfeldanalysen eröffnen. Die einzelnen Beiträge zeigen aber auch durch die Bank, dass man sich immer außerdem um ein verstehendes Begreifen der Textinhalte bemühen muss. Insgesamt zeigt der sorgfältig redigierte und klug gegliederte Band – allein Rückverweise auf die vollständigen Titel zuvor zitierter Literatur wären wünschenswert gewesen –, dass die historische Semantik eine ganz neue Perspektive auf traditionelle Fragestellungen ermöglicht und den Blick für neue Zugänge und Lösungsansätze öffnet, wie es die Herausgeber selbst für die Kapitularien formulieren: „Die Karolinger schufen ein flexibles Instrument zur Kommunikation mit ihren Amtsträgern, das sich gerade aufgrund seiner Regellosigkeit besonders für ein pragmatisches Regierungshandeln eignete“ (S. 31). Damit legt der Band in der Tat eine neue Basis für die weitere Erforschung der Kapitularien.

Anmerkungen:
1 François Louis Ganshof, Was waren die Kapitularien?, Darmstadt 1961, S. 13.
2 Gerhard Schmitz, Art. „Kapitularien“, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte 2, 2. Aufl., Berlin 2011, Sp. 1604–1612, hier Sp. 1607.
3 Christina Pössel, Authors and recipients of Carolingian capitularies, 779-829, in: Richard Corradini u.a. (Hrsg.), Texts and Identities in the early Middle Ages (Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 13), Wien 2006, S. 253–276.
4 Steffen Patzold, Normen im Buch. Überlegungen zu Geltungsansprüchen so genannter „Kapitularien“, in: Frühmittelalterliche Studien 41 (2007), S. 331–350.
5 Josef Semmler, Legislatio Aquisgranensis, in: Kassius Hallinger (Hrsg.), Initia consuetudinis Benedictinae 1. Consuetudines saeculi octavi et noni, Siegburg 1963, S. 423–481, 501–582.
6 Edition: Herbert Schneider, Karolingische Kapitularien und ihre bischöfliche Vermittlung. Unbekannte Texte aus dem Vaticanus latinus 7701, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 63 (2007), S. 469–496.

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